Leichenfledderei beim Zahnarzt auf dem Lande
TSVG – Eine goldene Zukunft für Kassenpatienten?
Alles neu macht der Mai. Ab dem 01.05.2019 dürfen sich alle Kassenpatienten freuen. Neue Zeiten brechen an. Nie wieder warten auf einen Arzttermin. Das klingt wie ein kleines Wunder. Aber ist es das auch?
Wir haben für Sie die neue Hotline ausprobiert, schildern Ihnen wie kreativ Patienten sind, wenn es darum geht, einen Termin bei einem begehrte Facharzt zu bekommen und was das alles in Zukunft für Ihren Besuch beim Zahnarzt in Halle bedeutet. Sie werden nicht amüsiert sein!
Bühne frei für Jens Spahn!
Es sollte der erste große Auftritt des überambitionierten Gesundheitsministers Jens Spahn werden: Endlich einen Termin beim begehrten Facharzt in Echtzeit bekommen. Hurra, nie mehr warten müssen!
Am 14. März diesen Jahres, im Eilverfahren durch den Bundestag geprügelt, tritt das Terminservice- und Versorgungsgesetz (TSVG) bereits am 1. Mai in Kraft.
Ärzte müssen ab sofort zusätzliche Sprechzeiten für neue Patienten anbieten und erhalten dafür im Gegenzug mehr Geld und ein höheres Budget. So der grobe Ansatz des Gesundheitsministers. Wer genau wissen möchte, was die neue Gesetzeslage hergibt und wie das alles funktioniert, dem sei hier dieser Link empfohlen.
Eine ganz heiße Nummer!
Das ganze schöne Gesetz soll über eine zentrale Vermittlung abgewickelt werden. Jeder Patient kann sich jetzt schon mal diese Nummer in seinem Handy einspeichern:
116117
Wir haben die Hotline am heutigen Tag für Sie überprüft. Unglaublich! Kaum eine Warteschleife und es geht sogar jemand ran. Heute am 1. Mai, dem Tag der Arbeit.
Ob es dann auch mit einem Termin klappt, sei dahin gestellt. Das sollte jeder mal einfach selbst ausprobieren. Viel Glück!
Träume sind Schäume
Doch warum könnte dieser hehre Wunsch an der schnöden Realität scheitern? Eben, weil das Gesetz mit der Realität nicht viel zu tun hat.
Das Ministerium nimmt ein bisschen Geld in die Hand, um einen Mangel zu beseitigen, der sich eben mit Geld nicht beheben lässt. Monetäre Anreize oder ein zusätzliches Budget für überforderte Ärzte sind nicht die Lösung für ein grundsätzlich strukturelles Problem. Denn, dort wo der Mangel am höchsten ist, kann selbst mehr „Kohle“ kaum noch helfen.
„Gerade in Ostdeutschland arbeiten die niedergelassenen Ärzte am Limit. Zusätzliche Termine sind für diese Kollegen gar nicht möglich“, betonte der Präsident der Sächsischen Landesärztekammer, Erik Bodendieck.
Auch eine Arzthelferin darf nicht länger als 40 Stunden die Woche arbeiten. Soll sie jetzt 45 Stunden und mehr in der Praxis sein?
Sollte der strapazierte Landarzt, nachdem er 20:00 Uhr seinen letzten Hausbesuch absolviert hat, noch mal drei Stunden dranhängen und bei Opa Müller kurz vor Mitternacht daheim auf dem Bauernhof zum Blutdruckmessen vorbeischauen? Absurd!
Wie schaut es beim Zahnarzt auf dem Lande aus?
Doch dieser Mangel betrifft nicht nur die Allgemein- und Fachärzte in der dörflichen Region. Auch bei den Zahnmedizinern, jenseits der größeren Städte, ist bereits Land unter.
„Wie mir eine Kollegin, die zwischen Leipzig und Chemnitz in einer ländlichen Zahnarztpraxis praktiziert schilderte, sind die Zustände dort ebenso katastrophal, wie bei den Augen-, HNO- oder Hautärzten.“, kann Zahnarzt Roger Barz berichten.
Geben ältere Zahnarztkollegen ihre Praxis auf, findet sich meistens niemand, der diese übernimmt. Kaum noch einer von den jungen Zahnmedizin-Absolventen will auf dem Dorf praktizieren. Die Folge ist dann, dass mehr Standorte ohne Nachfolger geschlossen werden und der Zahnarztstuhl einfach ausgeschraubt, verschrottet oder bestenfalls bei ebay verscherbelt wird. Doch die zurückgelassenen Patienten kann man leider nicht so einfach entsorgen.
Leichenfledderei
„Wir sind bereits jetzt schon nicht mehr in der Lage, unsere Stammpatienten mit zeitnahen Terminen zu versorgen und mussten einen absoluten Aufnahmestopp für neue Patienten verhängen. Ich arbeite bereits schon 45 Stunden am Stuhl in meiner Praxis. Soll ich jetzt noch 50 Stunden und mehr arbeiten! Das geht doch nicht! Da bin ich doch eine wandelnde Gefahr für meine Patienten!“, so die sichtlich genervte Kollegin.
„Wie prekäre die Lage ist, merken wir oftmals am Montagmorgen. Wenn am Samstag die Tageszeitung mit den lokalen Todesanzeigen herauskommt, klingelt bei uns das Telefon heiß.“, weiß die Zahnärztin zu berichten. „Opa Schmidt sei doch letzte Woche gestorben. Der war doch bei Ihnen Patient. Jetzt ist doch wieder ein Platz frei, kann ich dann bitte einen Termin haben?“ – Unglaublich, aber leider wahr.
Was bedeutet das für meinen Zahnarztbesuch in Halle?
Doch wie ist die Situation in den größeren Städten und speziell hier in Halle an der Saale?
Patienten können vorerst aufatmen.
Die Kassenzahnärztliche Vereinigung bescheinigt den Bewohnern der Stadt an der Saale eine Überversorgung von knapp 125 Prozent. Platz 2 in Sachsen-Anhalt. Nur knapp geschlagen von der Region Dessau-Roßlau. Das heißt im Klartext – fast jeder vierte Zahnarzt ist laut den Versorgungsrichtlinien dieser ärztlichen Behörde angeblich überflüssig. Doch wird das auch so bleiben?
Alles nur vertagt?
Logisch, ist der Zahnarzt natürlich mit seinem speziellen Behandlungsspektrum begehrt, dann kann es schon mal sein, dass man etwas länger auf einen Termin warten muss. Aber mit Zahnschmerzen zum Notdienst unter der Woche muss eigentlich in dieser Stadt niemand. Auch für eine fehlende Füllung oder bei einem drohenden Karies braucht es keine wochenlangen Wartezeiten.
Doch das ist noch die gute Nachricht. Auch in den größeren Städten werden in naher Zukunft mehr Zahnärzte in Rente gehen als neue Kollegen „nachwachsen“. Es ist also auch hier nur noch eine Frage der Zeit.
Fotos: Matthias Vogel, Roger Barz & Pixabay
