Plötzlicher Kellnertod – in Halle stirbt es sich jetzt langsamer.
Das Blog zum Sonntag Ausgabe 4
Es fühlte sich an wie ein Ritterschlag. Wenn man sich als junger Zahnmedizinstudent am Anatomischen Institut der Martin-Luther-Universität Halle erfolgreich durch viele Leichen studiert und seziert hatte, jedes Gefäß, jeden Nerv und Muskel an der richtigen Stelle finden und auch benennen konnte und am Ende des zweiten Studienjahres schließlich erfolgreich das Examen bestand, kam schließlich der große Augenblick.
Eine Führung durch die Meckelsche Sammlung, immer höchstselbst vollzogen vom jeweilige Anatomie-Professor. In meinem Fall war es mein hervorragender Anatomielehrer Dr. Rudolf Blume, der uns an den riesigen Glasschränken, vollgestopft mit den unzähligen Absurditäten der menschlichen und tierischen Anatomie aus zwei Jahrhunderten, vorbeigeleitete.
Siamesische Zwillinge im Glas, mißgebildete Skelette, getrocknete menschliche Nieren… ein wahres Gruselkabinett der Abnormitäten. Hier hat die Natur wirklich den ein oder anderen derben Schabernack getrieben. Und all das haben der gute alte Meckel und seine Söhne über mehrere Generationen hinweg akribisch gesammelt und präpariert.
Stirb Langsam Eins
Mich aber haben die mißgebildeten Föten nicht so interessiert, wie ein ganz bestimmtes Präparat, das nur am Rande der Führung kurz Beachtung fand. Ein querer Schnitt durch den menschlichen Schlund mit einem Objekt darin, was eigentlich nicht dort hingehörte. Das gerahmte Exponat hatte den Namen „Plötzlicher Kellnertod“.
In frühen Zeiten – manche werden sich vielleicht noch erinnern – als die Menschen noch zahlreich und oft die Kneipen und Restaurants besuchten, war den Kellnern nicht immer eine Pause vergönnt. Also bestellte er sich fix in der Küche eine Bockwurst. Diese stand dann auf dem Tresen und wurde langsam kalt. Der Kellner biss im Vorbeigehen immer mal kurz rein. Ein schneller Snack.
Doch Vorsicht! Sollte man in der Hast einen Bissen nicht richtig schlucken und er schließlich im Hals steckenbleiben, dann blockiert er dort einen ganz bestimmten Nerv. Dieser Nerv zieht aber auch zum Herz und dieser blockiert dann wiederrum das lebenswichtige Pumporgan. Der Fremdkörper in diesem Präparat war nicht anderes als eine Stückchen Bockwurst. Daran ist der arme Mann gestorben.
Heute kennt man als Erste Hilfe Maßnahme das sogenannte Heimlich Manöver, aber vor 1974 mussten viele Zeitgenossen in solchen Situationen kläglich sterben.
Stirb Langsam Zwei
Dieses Ereignis traf sein Opfer absolut überraschend. Es heißt ja nicht umsonst „plötzlicher Kellnertod“. In Halle dagegen stirbt es sich zur Zeit etwas langsamer. Kein plötzlicher, sondern ein quälender Tod auf Raten.
Mit den Maßnahmen zur Eindämmung des Corona Virus sind seit dem 18. März alle Kneipen und Restaurants in Halle geschlossen und ein Ende ist noch nicht abzusehen. Aber sicherlich ein Ergebnis.
Es wird nicht nur ein großes Kneipen-, sondern auch ein großes Kellnersterben einsetzen. Allein in dieser Stadt sind hunderte Jobs hinter dem Tresen, in der Küche und draußen in den Biergärten gefährdet. Von der ganzen Zulieferindustrie für Fleisch, Bier und Gemüse gar nicht erst zu sprechen.
Schon jetzt übertrumpfen sich Großmärkte wie Mios oder Selgros mit Sonderangeboten gegenseitig, da kein Gastronom mehr ihre Ware benötigt. Denn nun bleibt die Küche kalt und das vermutlich für eine längere Zeit als befürchtet.
Stirb Langsam Drei
Seit nun fast einem Monat halten die Gastronomen dieser Stadt brav die Füße still, in der vagen Hoffnung, dass mit dem 19. April eine Lockerung der Lockdowns in Kraft tritt und sie wenigstens unter bestimmten Auflagen ihre Lokale wieder öffnen können. Die Enttäuschung war riesig, als die Regierung vielen Geschäfte und selbst Friseurläden eine Erlaubnis erteilte, Kneipen und Restaurants aber weiterhin geschlossen bleiben müssen. Diese scheinbar willkürliche Abstufung können viele Kneiper einfach nicht nachvollziehen.
Um ihrer Wut Ausdruck zu verleihen, fanden sich etliche Gastronomen dieser Stadt am letzten Freitag auf dem Markt zusammen und reihten im Rahmen einer bundesweiten Protestaktion leere Stühle auf. Sie standen dort mahnend wie Grabsteine. Eine schöne Aktion, doch wird sie auch was bringen?
Noch kommen die Soforthilfen bei den Kneipenbetreibern nicht an. Eine Senkung der Mehrwertsteuer von 19 auf 7 Prozent hat man für Juni oder Juli in Aussicht gestellt. „Doch was soll das nützen, wenn die Umsatzsteuer gesenkt wird, ich aber keinen Umsatz habe. Gar nichts bringt das!“, äußert sich entrüstet Jacky vom Kaffeeschuppen.
Stirb Langsam Vier
Die Politik hat großzügige Lockerungen angekündigt, aber mit dem weiteren Festhalten an den Abstandsregeln und der Mundschutzpflicht das große Kneipensterben amtlich angeordnet. Wer denkt, dass mit Rücknahme dieser Maßnahmen, die Leute in Scharen wie zum St. Patrics Day in die Kneipen strömen werden, der irrt gewaltig.
Gastronomie ist ein sehr sensibles Geschäftsfeld. In meiner mehr als zehnjährigen Tätigkeit als Veranstalter habe ich die Erfahrung machen können, dass selbst die kleinste gesellschaftliche Missstimmung ausreicht, um den Strom der Gäste von jetzt auf gleich versiegen zu lassen. Von diesem Schock erholt man sich dann nur in ganz langsamen Schritten.
Stirb Langsam Fünf
Denn es muss schon einen driftigen Grund geben, warum Gäste das Drei- bis Vierfache für ein gezapftes Bier und das bis zu Zehnfache für eine Pizza ausgeben, die nicht viel schlechter belegt sein muss, als die aus dem Tiefkühlfach im Supermarkt.
Der Grund ist die Atmosphäre. Mal fern von zu Hause zu sein, gemütlich mit Freunden zu sitzen und den Alltag einfach mal vergessen. Das ist vielen dieser höhere Aufpreis wert.
Doch wer möchte schon in einer halbvollen Kneipe von einem Kellner mit Schutzmaske bedient werden? Dabei stellt sich auch grundsätzlich die Frage, wie man dann wohl sein Bier trinken und seine Steak verputzen soll, wenn da ein Mundschutz im Wege ist. So oder so, das Geschäft ist ruiniert.
Stirb Langsam Sechs
Schick Essen gehen bedeutet dann irgendwann zu Subway oder Burger King zu schlendern… oder vielleicht doch nur auf einen Döner im Stehen?
Und der geliebte Italiener gleich um die Ecke heißt dann nicht mehr Alfredo, Giuseppe oder Matteo, sondern immer nur Pizza Hut. Mahlzeit & Yippie-Ya-Yeah, Schweinebacke!
Herzlichst Ihr Zahnarzt Roger Barz
Fotos in dieser Ausgabe: Silvio Kelz, Roger Barz & Pixabay