Wer bin ich… und wie viele eigentlich?
Kapitel 5 erzählt von Zahnarzt Roger Barz
Die Geschichte der Praxis Zahngesundheit Halle – sie handelt diesmal von einer wilden Bergtour durch die Karpaten, einer Erleuchtung auf einer einsamen Berghütte, von Rock’n’Roll und Risiko, Patienten im Tiefschlaf, von Franz Beckenbauer und einem ehrlichen Geständnis von Zahnarzt Roger Barz, dem Inhabers der Praxis. Abschluss unserer Serie. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!
Auch mal eine Erfahrung!
Eine große und schwere Schublade öffnet sich, noch eine… dann noch eine und nochmal eine. Es werden mehr. Insgesamt zehn an der Zahl sollten es schließlich sein, alle prall gefüllt mit Karteikarten. Wow, dachte ich, das ist doch mal interessant! Die Situation hatte für mich in diesem Moment etwas total Unwirkliches. Eine Erfahrung, die ich bisher so noch nicht gemacht hatte.
Nachbrenner
Wir schreiben das Jahr 2005. Die Tinte unter dem Kaufvertrag für meine erste Praxis war noch nicht richtig trocken, da zeigte mir mein Vorgänger Dr. Prescher die Akten seiner Patienten, die er nun an mich übergeben sollte. Ich war zu dieser Zeit fast 40 Jahre alt. Meine Assistenzzeit konnte ich erst wenige Wochen vorher erfolgreich abschließen.
Alle meine Kommilitonen von der Uni hatten bereits längst ihre eigene Praxis, waren dort schon mehr als 10 Jahre schwer am Schaffen und manche von ihnen hatten bereits auch schon ihren ersten Burnout hinter sich. Ich dagegen war sowas wie ein Spätzünder. Wobei man, 12 Jahre nach Abschluss des Studiums, wohl eher von einem gepflegten „Nachbrenner“ sprechen könnte. Einem, der ganz langsam kommt. Ganz tückisch. Dann, wenn man eigentlich gar nicht mehr damit rechnet.
In fremden Teichen fischen
Spätzünder? Nachbrenner? Ich sah mich damals dagegen vielmehr als so eine Art Quereinsteiger. Mein Leben bestimmten bis dahin andere Dinge, die mit der Zahnmedizin reinweg gar nichts zu tun hatten. Ich schlug mir viele Nächte um die Ohren. Verbrachte meine Zeit in Clubs und Konzertsälen, auf Festivalgeländen und in den Redaktionsstuben diverser Magazine. Aber nicht als Partygast und Besucher, sondern als DJ, Konzert-Promoter, Veranstalter von großen Buchlesungen und auch als Chefredakteur. Ich war ein Macher.
Berggeflüster
Begonnen hatte das aber alles schon viel früher. 1989, in den ersten großen Semesterferien während einer wilden Tramp-Tour durch Rumänien und einer abenteuerlichen Bergbesteigung in den Karpaten. Nur mit Turnschuhen oder Jesus-Latschen, kurzen Hosen, dünnen Schlafsäcken und billigen Zelten ausgerüstet, kraxelten wir über gefährliche Felsvorsprünge, durchquerten lange Schluchten und Täler.
Eines Abends, wir hatten wieder mal erfolgreich einen Viertausender mit unserer armseligen Ausrüstung bezwungen, fragte mich damals einer meiner Mitbegleiter und Student der Allgemeinmedizin, Christian Rieger, in einer einsamen Berghütte hoch oben in den rumänischen Karparten, ob ich wohl ein bisschen Geld gebrauchen könnte.
Klar brauchte ich Geld! BAföG gab es damals noch nicht und irgendwie wollte ich möglichst bald dem Internat in der Scheibe C von Halle-Neustadt entfliehen. Das Studentenwohnheim erinnerte mich mehr an meine Armeezeit, als an ein Studium der Zahnmedizin. Ich wollte unbedingt eine eigene Bude. Aber dafür brauchte ich Kohle. „Na dann fang doch einfach bei uns im Turm an.“, so sein Vorschlag. Ich war dabei.
Wo bleibt das Trinkgeld!
Das schien die Lösung. Pünktlich in der ersten Oktoberwoche meldete ich mich zum Bardienst im damals angesagtesten Stundentenklub der Stadt an. Egal ob Bierthresen, Garderobe, Einlass oder Bar, ich war plötzlich in der Service-Industrie. Und Service wurde bei uns groß geschrieben.
Immer freundlich zu sein, nebenher noch ein schnelles Bier zapfen und dabei die Wünsche des Gastes von den Augen ablesen zu können, waren auch in den ausgehenden Zeiten von Konsum und HO keine ausgestorbenen Tugenden. Als sogenannter „Dienstleister“ konnte ich dort viel lernen.
Der offizielle Stundensatz war schon damals absolut lächerlich. Auf das Trinkgeld waren wir alle scharf… also immer schön freundlich sein! Das Trinkgeld sprudelte schließlich nur so rein, ich hatte meine erste eigene Wohnung und dann 1990, ein Jahr nach der Wende, eine Idee.
Hallo, ist da Herr Goldt?
Ich mochte schon sehr früh die Band Foyer des Arts und seinen Sänger Max Goldt. Der schrieb jetzt auch Bücher. Doch niemand im Osten veranstaltet seine Lesungen. Wenn also der Künstler nicht zum Gast kommt, kommt eben der Gast zum Künstler, dachte ich mir.
Ich fragte damals den Chef vom Turm, Ulf Elmar Böttcher, ob ich nicht mal so eine Art Lesung veranstalten könnte. „Eine Lesung?“, er schaute mich dabei etwas schräg an. „Meinetwegen, dann mach mal…“ – Einen Tag später setzte ich mich sofort ans Telefon und rief einfach mal bei Herrn Goldt in Berlin an… es tutete am anderen Ende… eine sonore Männerstimme meldete sich… geschafft!
Schreck lass nach
Die Lesung war im Vorfeld restlos ausverkauft. Trotzdem versammelten sich am Abend hunderte Menschen ohne Tickets vor dem Turm. Tobten, riefen und drängelten, bettelten um Karten. Eingedrückte Glasscheiben, herrenlose Schuhe lagen verstreut auf dem Pflaster rum. Ein Szenario wie bei einem Beatles-Konzert in den späten Sechzigern. Dabei war es doch nur eine einfache Lesung und dann diese Tumulte?! Ich war schockiert.
„Lief doch ganz gut!“, so mein damaliger Chef. „Kannst’e jetzt weitermachen!“. Und plötzlich war ich in der Veranstaltungsbranche gelandet. Herzlich willkommen!
Tausend mal berührt…
Daraus wurden dann schließlich über zehn Jahre. Mein Studium habe ich erfolgreich abgeschlossen. Dabei knapp 1.000 Veranstaltungen und Festivals organisiert, war auch noch zwei Jahre als Chefredakteur des Stadtmagazins „DUST“ tätig, hob gemeinsam mit Stefan Maelck „Die Schöner Abend Show“ aus der Taufe und wurde später sowas wie ein ausgewiesener Spezialist für diverse Lesungen.
Nicht nur Max Goldt, auch Wladimir Kaminer, Benjamin von Stuckrad-Barre, Sven Regner oder Robert Seethaler holte ich als erster auf die hallesche Lesebühne. Das war toll.
Während alle meine Berufskollegen bereits von einem neuen, anderen Leben nach ihrer Kariere als Zahnarzt träumten, ergriff ich die Gelegenheit einfach beim Schopfe. Warum damit warten bis man Rentner ist? Als Zahnarzt konnte ich noch genug arbeiten!
Risiko & Sicherheit
Es war ein traumhafter Job, doch er war auch hoch riskant. Als Veranstalter gab es keine Garantien. Jedes Konzert war ein Abenteuer, wie eine neue Geschäftsidee, ohne zu wissen, wie viele potentielle Kunden es eigentlich dafür gibt. Wird es wohl an diesem Abend wieder reichen?
Das war jedes Mal die bange Frage. Ein einziger Flop und die Gewinne von vier oder fünf erfolgreichen Veranstaltungen waren meistens dahin. Unwiederbringlich verloren.
Artikel im AHA-Magazin über Roger Barz hier direkt einlesen
Deshalb war ich auch in dem Moment so überwältigt, als Dr. Prescher in meiner künftigen Zahnarztpraxis die etlichen Schübe mit den Patientenakten öffnete. Wow!, dachte ich. Schubladen voller „Abonnenten“. Menschen, die mich in jedem Falle mindestens ein Mal im Jahr besuchen müssen. Wenn es doch sowas auch in der Konzertbranche gegeben hätte… unglaublich!
Zielgruppenanalyse
Dass es sich bei diesen „Abonnenten“ eher um ein Archiv von ausschließlich Rentnern handelte, berichtete ich schon im ersten Kapitel meiner Geschichte. Nicht sonderlich zukunftsträchtig, wenn man noch über 25 Jahre als Zahnarzt in der Branche arbeiten möchte. Aber ich wusste plötzlich, wer eigentlich meine potentiellen „Kunden“ sind: ältere Menschen, denen bestimmt der ein oder andere Zahn wackelt. Zähne, die man bestimmt noch retten kann.
Bereits im gleichen Jahr buchte ich einen umfangreichen Kurs beim renommierten Parodontologen Prof. Dr. Knut Merte in Leipzig und richtete ab da meinen Tätigkeitsschwerpunkt auf die Zahnerhaltung aus. Zahnfleischbluten, ein Zahn der sich plötzlich lockert und weh tut… wer denkt das Diabetes, Herz- oder Kreislauferkrankungen die Volkskrankheit Nummer Eins sind, der hat sich getäuscht.
Parodontitis, oder auch gern Parodontose genannt, ist das Leiden, welches die Menschen am häufigsten plagt. Niemand verliert gern einen Zahn. Die Zahl meiner Neupatienten wuchs somit stetig. Ich wurde zum Spezialist, ohne jedoch damals zu ahnen, dass meine berufliche Richtung einen noch ganz anderen Weg einschlagen sollte.
Der Name wird zum Programm
„Zahngesundheit hat ein Zuhause – Zahngesundheit Halle“, so der Slogan für meine neue Praxis, die ich bereits im Jahre 2008 in der Geiststraße eröffnete. Kein leichter Weg damals, wie man im zweiten Kapitel unserer Geschichte nachlesen kann. Während ich mich noch mitten im Ausbau des neuen Standortes befand, Stress mit Banken und Handwerkern überstehen musste, blieb doch noch Zeit für die ein oder andere Fortbildung. Nicht viele sind mir davon in Erinnerung geblieben, aber dieser eine Samstagnachmittag in Dresden schon.
„Allgemeine Psychologie in der Zahnarztpraxis“, das Thema und es sollte mich nicht so schnell wieder loslassen. Ich traute damals meinen Ohren nicht. Was es doch alles noch neben lockeren Zähnen gab. Hypnose, NLP und Lachgas. Borderliner, Schizophrene und natürlich Angstpatieten – eine ganze Welt voller Psychologie und Psychosomatik eröffnete sich plötzlich. Das war neu, das war spannend! Ich war natürlich dabei.
Hypnotherapeut
Schon mit der Eröffnung meiner neuen Praxis merkte ich recht bald, dass ich zunehmend Patienten von ihren Angstzuständen befreien konnte. Das hing zweifellos mit dem neuen räumlichen Gestaltungskonzept meiner Praxis zusammen, welches dem Patienten das Gefühl vermittelt, eigentlich nicht beim Zahnarzt zu sein.
Wie es aber noch besser funktionieren könnte, wollte ich nun unbedingt ergründen und erlernte in einer umfangreichen Weiterbildung die Fähigkeit, Menschen zu hypnotisieren, damit sie entspannter eine Behandlung beim Zahnarzt erfahren können. Das klappte sehr gut. Aber die Hypnose war es im Grunde nicht allein, die mich eigentlich fesselte und faszinierte. Es waren drei Buchstaben: NLP.
Was soll das denn sein?
NeuroLinguistischesProgrammieren – so sperrig wie der Begriff ist, ebenso anspruchsvoll ist auch die Methode. Komplex und herausfordernd. Einfach erklärt: im Grunde geht es um die Macht der Worte. Wie wir sie wählen. Warum wir sie überhaupt sagen oder auch manchmal nicht sagen und was sie bei uns, tief im Inneren, alles auslösen können. Positiv wie negativ.
Sätze von anderen Menschen, unwiderruflich ausgesprochen und sollten sie noch so kurz sein, können mindestens unsere Tageslaune verderben und manchmal sogar auch unser ganzes Verhalten verändern. Diese Erfahrung wird sicherlich der ein oder andere schon mal gemacht haben. Trotzdem ist dieses Feld in Deutschland weitgehend unbekannt. NLP… noch nie gehört.
Schluß mit den langwierigen Hypnosen!
Dafür lieber eine gute und zielführende Kommunikation zwischen mir und meinen Patienten. Das könnte doch ein Weg sein, um noch besser und effizienter zu werden, denn die Zahl meiner Patienten in meiner neuen Praxis wuchs auch hier stetig .
Den Kurs konnte ich nicht schnell genug buchen. Bereits ein Jahr später hatte ich meinen Abschluss als Practitioner.
Doch ich wollte mehr darüber lernen und das vom Besten seines Faches. Thies Stahl. Was Franz Beckenbauer für den Fußball ist, ist Thies Stahl für das Thema NLP. In den 80iger Jahren war er es, der diese Kommunikationslehre aus den USA direkt nach Deutschland holte. Fast drei Jahre dauerte es schließlich, bis endlich genug Teilnehmer zusammenkamen, die bei ihm in Hamburg ihren Master of NLP machen wollten. Und ich war dabei und ein ganzes Jahr später endlich selber ein Master!
An jedem Zahn hängt doch ein Mensch!
Ein ähnliches Problem hatte auch ein Kurs an der renommierten Universität in Münster. „Psychosomatik in der Zahnmedizin“. Kurz umschrieben: Wenn die Ursache von Zahnschmerzen nicht unbedingt die Zähne sind. Fast hätte der Kurs nicht stattgefunden. Nur 12 Kollegen aus ganz Deutschland zeigten ein ernsthaftes Interesse, sich mit diesem Thema intensiver zu beschäftigen.
Zu wenige. Aber schließlich doch irgendwie genug. Zum Glück sagte man diese Veranstaltungsreihe nicht ab und ich fuhr fast ein Jahr lang regelmäßig in das weit entfernte Münster, um an einer Universität zu lernen, die als einzige in Deutschland über eine solche Fachabteilung verfügte. Wieder Neuland. Wieder viel gelernt. Komplett ist man niemals.
Der, der bohrt
Auch, wenn vielleicht hier der Eindruck entstehen könnte, dass diese vielen Erfahrungen und Spezialisierungen ein reiner Alleingang gewesen sind, der irrt. Um meinen Erfahrungsschatz auch erfolgreich in meiner Praxis umzusetzen zu können, verlangte es ein gutes Team. Ein Team, auf das man bauen und zählen kann und natürlich auch ein gewisses Selbstverständnis über seine eigene Position in diesem Gefüge.
Wenn ich gefragt werde, welche Position ich im Team meiner Praxis habe, dann antworte ich meistens lapidar: „Ich bin nur der, der bohrt.“
Klar bin ich Inhaber und Chef meiner Praxis, aber ich bin nur so gut, wie es auch mein Team ist. Fortbildungen und Spezialisierungen kann nicht allein nur der Chef anordnen. Es muss auch von allen in der Praxis getragen und umgesetzt werden. Anders geht es nicht!
Bitte nicht vergessen!
Auch meine Mitarbeiterinnen sind Spezialisten auf ihrem jeweiligen Gebiet. Egal ob als Praxismanagerin, an der Rezeption, in der Prophylaxe-Abteilung oder als direkte Assistenz bei der Behandlung. Gegenseitige Achtung, Respekt und ein Umgang auf Augenhöhe sind hohe Werte, die mir äußerst wichtig sind.
Sie helfen dabei, unseren Patienten einen kompetenten Service bieten zu können. Schließlich retten wir nicht nur den ein oder anderen Zahn. Mit der spezialisierten Behandlung von Angstpatienten verändern wir auch manchmal komplett das Leben unserer Patienten. Das muss man mögen und manchmal auch aushalten.
Nicht allein meine Geschichte
Denn oftmals haben es „meine Mädels“ mit mir nicht leicht. Welcher Zahnarzt macht schon einen Osterhasen zum Praxismaskottchen und dreht mit ihm und seinem Team ein Video nach dem anderen?
Wie organisiert man den Praxisalltag, wenn der Chef häufig zu Kongressen und Weiterbildungen ist. Als Referent auf der maltesischen Insel Gozo Vorträge über soziale Netzwerke & Zahnmedizin hält, Azubis mit dem Thema „Angstpatient“ in der Berufsschule vertraut macht oder Patientenabende in der Praxis veranstaltet.
Sowas geht nur in einem Team, in dem sich jeder auf den anderen verlassen kann und ist vielleicht auch der Grund, warum ein Großteil der Mitarbeiterinnen schon seit der ersten Stunde mit dabei und immer noch da sind.
Die Geschichte der Praxis Zahngesundheit Halle ist nicht nur die Geschichte von Roger Barz. Sie ist auch unsere Geschichte. Vielen Dank, Cindy, Romy, Jeannette und Sarah! – Besser kann man das fünfte und letzte Kapitel unserer kleinen Serie nicht beschließen!
ENDE… vorerst natürlich!
Lesen Sie auch Kapitel 1
10 Jahre Zahngesundheit Halle – Wie alles begann…
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10 Jahre Zahngesundheit – Hier sind wir endlich am Start!
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Lesen Sie außerdem auch Kapitel 3
10 Jahre Zahngesundheit Halle – Vor dem Nichts…
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Lesen Sie außerdem auch Kapitel 4
10 Jahre Zahngesundheit Halle – Warum nur immer dieser komische Hase?
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Fotos: Hartmut Friedrich, Norbert Utzig, Thies Stahl, Silvio Kelz, Turm e.V. & Roger Barz